Die Stimme ihres Herrn – Wie laut darf die sein?

Her Masters VoiceDas Forschungsprojekt „Arbeitsplätze für Phonotypistinnen“, veröffentlicht im Jahre 1983, hat neben vielen anderen Erkenntnissen ein sich unglaubwürdig anmutendes Ergebnis erbracht: Die harmlos aussehenden Diktiergeräte erzeugten Lärmpegel, die sich mit denen von Düsenjägern messen lassen. Das Ergebnis klang deswegen so unglaubwürdig, weil die Geräte mittlerweile über 80 Jahre im Einsatz waren und niemand sich darüber beschwert haben sollte. Zudem musste man in Zweifel ziehen, ob eine Elektronik mit einem geringen Energieverbrauch solche Lärmpegel hätte überhaupt erzeugen könnte.

 

Sie kann! Der Kopfhörer eines Diktiergeräts verteilt ihre Energie nicht in die weite Welt, er steckt direkt im Ohr. Der Lärm, den er produziert, ist sogar gefährlicher als der, den der Düsenjäger verursacht, weil das Ohr zusätzlich mechanisch belastet wird. So war er nicht verwunderlich, dass 8 von 13 Phonotypistinnen in unseren Versuchen Hörschäden aufwiesen. Wenn es nur dabei geblieben wäre! Der mit dem erschwerten Hörvorgang verbundene Stress ging buchstäblich in den Rücken: Phonotypistinnen, denen die Arbeitsmediziner eine für Schreibkräfte ideale Körperhaltung bescheinigten, hatten mehr Rückenprobleme als Kolleginnen, die vom Blatt abtippten.

 

Die Sache wurde nicht ernst genommen, bis ein Mitarbeiter einer Berufsgenossenschaft eine Schätzung veröffentlichte, wonach ca. 300.000 Frauen allein in Deutschland gefährdet waren. Erst danach wurden Pegel-begrenzte Diktiergeräte entwickelt und eingesetzt. Mittlerweile sind viele neue Geräte mit Kopfhörern auf den Markt gekommen, die man nicht mehr beruflich benutzt. Sie erzeugen wieder so hohe Pegel wie 1983, mit Musik, die Freude macht. Die schöne Musik schützt einen aber nicht vor dem Schaden. Über den Witz „Opa, sprich lauter, ich verstehe dich nicht!“ kann man wirklich nicht lachen.

 

Man kann den hier skizzierten Vorgang nicht zu den Erfolgsgeschichten der Ergonomie zählen. Er stellt eher Teil einer fast ein Jahrhundert andauernden schwerwiegenden Ignoranz einer gesundheitlichen Schädigung dar. Der Vorgang begann mit einer der wichtigsten technischen Erfindungen der Geschichte, der des Phonographen. Dieser sollte nach dem Willen des Erfinders, Thomas A. Edison, der Kommunikation zwischen Chef und Sekretärin dienen.

 

Würde die Erfindung wirklich im Sinne des Erfinders genutzt werden, wäre damit kein nennenswertes Problem für die Benutzerinnen verbunden. Denn laute Geräte muss man nicht laut betreiben. Man hat das Gerät aber auch in zentralisierten Schreibstuben für Schreibkräfte eingesetzt. Dort herrschten um das Jahr 1900 wie 1980 Schallpegel über 75 dB(A), die die Benutzerinnen zwangen, ihre Geräte lauter aufzudrehen. Ihre Empfindung, nach der Arbeit fühlten sie eine Leere im Kopf, bereits beschrieben im Jahre 1912, gab allenfalls Anlass zu hämischen Bemerkungen über ihre Frisuren. Dabei hatten sie die Symptome einer Vertäubung beschrieben.

 

Im Jahre 1976, als die Probleme bereits erkennbar waren, allerdings noch nicht veröffentlicht, hat der Bundesrechnungshof allen Obersten Bundesbehörden vorgegeben, ihre Schreibkräfte zu zentralisieren und die Kommunikation mit den Sachbearbeitern nur über Diktiergeräte zuzulassen. So sollte die Schreibguterstellung im öffentlichen Dienst rationalisiert werden. Daran wurde festgehalten, auch nachdem die Erkenntnisse dieser Studie veröffentlicht worden waren.

 

Die zentralen Schreibdienste haben sich zum Glück weitgehend selbst aufgelöst, nachdem ein Projekt mit unserer Beteiligung (Schreibdienste in Obersten Bundesbehörden) zu der Empfehlung geführt hatte, nicht nur die Schreibdienste aufzulösen, sondern auch die Schreibarbeit weitgehend abzuschaffen. Aber ihre modernen Nachfahren der „zentralen“ Dienste, die Call Center, litten und leiden unter akustischen Problemen, die man vermeiden kann, wenn die Agenten nicht verdichtet zusammen gesetzt werden. Der Unsinn aus der Zeit der Schreibstuben und der späteren zentralen Schreibdienste wurde aber wiederholt, obwohl heute nicht einmal zwei Call Center Agenten auf dem gleichen Kontinent sein müssen, um effektiv arbeiten zu können. Sie sitzen aber noch dichter zusammen als zur Zeit der Telefonauskunft vor der Einführung der Computer. Zum Glück hatten die Call Center noch viele andere Mängel, so dass ihre Rolle heute sehr eingeschränkt ist.

 

Und obwohl Pegel begrenzte Kopfhörer bereits lange existieren, ruinieren sich viele Menschen ihr Gehör freiwillig. Manche auch unfreiwillig, wenn sie schlechte akustische Bedingungen versuchen durch Lautstärke zu übertönen.

Der Phonograph ist mit Sicherheit ein hervorragendes Beispiel dafür, dass nicht eine Technik eine Gefahr darstellt, sondern deren Nutzung. Er ist auch ein Beispiel dafür, dass eine gute Technik, falsch benutzt, ins Abseits geraten kann. Den Begriff Phonotypistin kennt heute kaum noch jemand.

zurück zu: Erreichte Ziele

Cookie Consent mit Real Cookie Banner